
Mehr Einwanderung? Deutschland muss erst seine Millionenreserven aufbrauchen


Mehr als 3,1 Millionen Bürger gehören der „stillen Reserve“ an, erinnert Olaf Gersman
Bildnachweis: Ezra Bailey / Getty Images; Claudius Halle
Politik und Wirtschaft fordern immer wieder mehr Arbeitsmigration aus fernen Ländern. Gleichzeitig werden Millionen Bürger dieses Landes mehr arbeiten – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Vor allem die Kehrseite des Teilzeitbooms verdient mehr Aufmerksamkeit.
EINAmerikas Tech-Titanen, mit Ausnahme von Apple, überbieten sich in diesem Winter gegenseitig mit massiven Entlassungen. Der Imageschaden ist enorm für Konzerne, die sich über die Kalifornier freuen Meister des Universums Außerdem – und natürlich sagen einige voraus, dass Alphabet, Meta & Co. wird seine Taten bereuen.
Vorbildlich visionär und sozial sind dagegen Unternehmenslenker, die kranke Geschäftszweige aufstellen und Arbeiter versammeln, die trotz Kosten- und Lieferkettenkrisen auf bessere Zeiten hoffen. Ob die besonders visionäre und soziale Strategie in Deutschland durch liberale Kurzarbeitsregelungen bestmöglich unterstützt wird, bleibt abzuwarten.
Ohnehin hat sich ein fortgesetzter staatlich subventionierter Bautenschutz selten als zukunftsträchtig erwiesen, und wenn ein weniger elastischer Lohnkostenblock zu geringeren Investitionen durch geringere Gewinne führt, ist vermeintlich geschützten Arbeitnehmern letztlich am wenigsten geholfen.
Eine vermeintlich geringe Arbeitslosigkeit, letztlich keine große Quelle deutscher Arroganz, könnte sich daher leicht als zweischneidiges Schwert erweisen. Angesichts von 1,8 Millionen Stellenangeboten fällt selbst Wirtschaftsvertretern nichts anderes ein, als dass der ständige Ruf nach mehr Zuwanderung aus fernen Ländern höchst bedauerlich ist.
Denn das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Der Jobboom in Deutschland ist fast ausschließlich ein Teilzeitboom. Innerhalb von 30 Jahren ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten in Deutschland um eine Million gestiegen.
Die Zahl der Vollzeitstellen ging dagegen sogar um drei Millionen zurück. Das Ergebnis: Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet nur 1349 Stunden im Jahr, weniger als in jedem Industrieland weltweit.
„Stille Reserven“ auf dem Arbeitsmarkt
Dazu kommen Millionen Arbeitslose, die arbeiten wollen – und doch nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Mehr als 3,1 Millionen Bürger gehören dieser „stillen Reserve“ an, meldete das Statistische Bundesamt dieser Tage. Die meisten von ihnen haben mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung oder Hochschulreife.
Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass sich nur Teilzeittrends umkehren lassen oder die erwähnten „stillen Reserven“ leichter mobilisiert werden können. Das Problem ist, dass Lösungen für die Situation nicht einmal ernsthaft diskutiert werden.
Feindliche Betreuungsstrukturen für Vollzeitbeschäftigte, Steuersätze in Rekordhöhe, ein scheinheiliger Ehegattensplitt, heftige Transferentnahmen für Mehrverdiener: Stellschrauben, an denen man drehen kann, gibt es genug, wenn man will. Von der Ampelallianz ist hier wenig zu erwarten. Auch die Opposition, einschließlich der Gewerkschaft, tat dies nicht. „Fortschritt wagen“, das offizielle Motto der Ampeln, bleibt wieder anderen überlassen.